Deutschlands Irrweg in Sachen Antisemitismus und Palästina
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Deutschlands Irrweg in Sachen Antisemitismus und Palästina

Als jüdische queere Frau weiß ich, dass ich bei meinen palästinensischen Freund*innen und Kamerad*innen wirklich sicherer bin als beim deutschen Establishment. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit all denen, die davon betroffen sind, gegen Antisemitismus und alle Formen von Rassismus arbeiten müssen – aber nicht, indem wir falschen Trost bei weißen Rettern suchen. Solange sich Juden an das weiße deutsche Establishment wenden, um sich in Sicherheit zu wiegen, wird dies niemals unsere lähmende Angst und Furcht beenden, denn wir haben ausgezeichnete Gründe, diesem Establishment nicht unser Leben anzuvertrauen... dem Establishment, das Tausende Geflüchtete im Mittelmeer ertrinken lässt und israelischen Kriegsverbrechern die Hand schüttelt, bevor es Bereitschaft zeigt, mit kritischen Jüdinnen und Juden zu sprechen.




Deutschlands Irrweg in Sachen Antisemitismus und Palästina


Der Artikel von unseren Vorstandsmitglied, Inna Michaeli, wurde zunächst hier auf Englisch veröffentlicht.

 

Palästina-Solidaritäts-Demonstrationen und -aktionen in Deutschland wurden des Antisemitismus bezichtigt, doch wenn wir fragen, was daran eigentlich antisemitisch war, stellt sich heraus, dass es gar kein Antisemitismus war. Lassen Sie mich erklären, warum. Ich tue dies als öffentliche Dienstleistung, um deutschen Medien, Politikern und der Öffentlichkeit die Sichtweise einer jüdischen queeren Frau anzubieten.

In Deutschland wird das Eintreten für das Existenzrecht des palästinensischen Volkes für ein Leben in Sicherheit und Würde in seiner Heimat regelmäßig mit dem Vorwurf des Antisemitismus belegt. Aber diese Vorwürfe haben wenig mit Juden zu tun, dafür umso mehr mit einem deutsch-zentristischen Weltbild und mit Rassismus gegenüber Palästinensern, Muslimen und Migranten in Deutschland und ganz Europa.

Deutsche Politiker*innen sprechen Tag und Nacht von der Verpflichtung Deutschlands, Antisemitismus auszurotten und jüdisches Leben zu bewahren. Dieses Engagement zeigt sich in der bedingungslosen diplomatischen, militärischen und finanziellen Unterstützung Israels, selbst wenn der israelische Staat Kriegsverbrechen in Gaza begeht und ein Regime aufrechterhält, dem kürzlich von Human Rights Watch Apartheid bescheinigt wurde. Ein anderer Weg, diese Verpflichtung zu demonstrieren, ist die Diffamierung von Personen und Organisationen als antisemitisch, die sich für die Menschenrechte der Palästinenser und gegen das israelische Apartheidregime einsetzen, sogar wenn diese Personen oder die Mitglieder dieser Organisationen selbst jüdisch sind. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Migrant*innen und Geflüchtete für angeblich "importierten Antisemitismus" verantwortlich zu machen und Deutschland als Beschützer der Juden vor Antisemitismus zu positionieren, dessen Quelle implizit außerhalb Deutschlands liegt.

Nehmen wir zum Beispiel Berlins Innensenator Andreas Geisel. In einem Interview mit der "ZEIT" sagte der SPD-Politiker 2019: "Wenn ich höre, dass BDS [die Boykott-, Desinvestment- und Sanktionskampagne gegen Israel] sich angeblich gegen Antisemitismus engagiert, kann ich nur müde lächeln. Solche Organisationen behaupten ja gerne, sie seien antizionistisch, aber nicht antisemitisch. In der Praxis bedeutet das bei BDS Israelfeindlichkeit. Da sind die Übergänge zum Antisemitismus fließend.“ Im Gegensatz zu Geisels Vermengung von Antisemitismus und Antizionismus ist hier gar nichts fließend, schon gar nicht wird hier etwas verschwörerisch gemeint, was nicht gesagt wird.

 



 Palästinenser und ihre Unterstützer*innen sind nicht die Menschen, die nicht zwischen Rassismus gegen Juden und Widerstand gegen Israel unterscheiden können

Während Israel für einige weiße Rassisten das Zentrum der globalen jüdischen Verschwörung und eine Kraft des Bösen darstellt (so wie sie es begreifen, versteht sich), sind andere ganz angetan von diesem Staat. Rechtsextreme Bewegungen und Politiker bekennen sich oft problemlos zur Unterstützung Israels, während sie gleichzeitig antisemitische Ansichten fördern oder tolerieren. Man denke an die rechtsextreme Partei AfD in Deutschland, den ungarischen Premierminister Viktor Orbán oder Donald Trump. Auf der anderen Seite arbeiten Bewegungen wie „Palästina Spricht" mit vielen Juden zusammen und sprechen sich mit einer Integrität gegen Antisemitismus aus, von der staatliche Institutionen nur träumen können. Sie machen unmissverständlich klar, dass Antisemiten nicht willkommen sind und dass Zionismus nicht mit Judentum gleichzusetzen ist; dass Juden als Gesamtheit in keiner Weise für die Verbrechen des israelischen Staates verantwortlich sind.

Palästinenser*innen und ihre Unterstützer sind nicht diejenigen, die nicht unterscheiden können zwischen Rassismus gegen Juden und Widerstand gegen Israel. Es sind Politiker*innen wie Geisel und Berlins Bürgermeister Michael Müller, die die gewaltfreie und antirassistische BDS-Bewegung bequemerweise mit den Nazis vergleichen.

Man geht gemeinhin davon aus, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte besonders sensibel gegenüber Antisemitismus ist. Doch obwohl deutsche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und staatliche Institutionen Antisemitismus als Argument gegen die Rechte der Palästinenser anführen, zeigen sie sich selten sensibel gegenüber der jüdischen Erfahrung oder überhaupt gegenüber Rassismus. Im Gegenteil, sie scheinen ausschließlich auf die weiße deutsche Geschichte und Erfahrung und damit verknüpfte kulturelle und emotionale Assoziationen eingestellt zu sein – mit anderen Worten: Sie sind sensibel gegenüber sich selbst.

Das gängige Narrativ spricht von „deutscher Schuld“ – damit ist aber die Art von Schuld gemeint, bei der man sich selbst, nicht die Anerkennung der anderen Seite in den Mittelpunkt stellt. Damit begibt man sich in eine egozentrische, narzisstische Position. Das Ergebnis ist eine Politik, die letztendlich zu Tod und Zerstörung in Palästina sowie zur Kriminalisierung von Palästina-Solidarität und mehr Gewalt gegen Migrant*innen in Deutschland führt. Für einen Staat, der so sehr um "Integration" bemüht ist, arbeitet Deutschland hart daran, uns zu entfremden.

Unschwer lässt sich erkennen, wie diese Weltanschauung zu jener Polizeibrutalität führt, die wir dann bei Demonstrationen erleben. Zusätzlich zur klassischen Polizeigewalt ist diese besondere Brutalität auch politisch motiviert und zielt darauf ab, die Palästina-Solidaritätsbewegung zu zerschlagen. Diese ist jedoch eine wachsende Bewegung, die sich in Berlin und dem Rest von Deutschland großer Beliebtheit erfreut und stärker ist als je zuvor.

Kindermörder Israel

 Parolen wie „Kindermörder Israel“ sind Beschreibungen einer grässlichen Realität – ein Drittel aller durch israelisches Militär getöteten Palästinenser*innen in Gaza sind Kinder. So unpassend und triggernd das für einige Deutsche (und für viele Jüdinnen und Juden) auch sein mag – was sollte gerufen werden, wenn Israel Kinder umbringt? Wie sollen die Betroffenen ihre Wut und ihren Schmerz ausdrücken, wie können sie um ihre Kinder trauern, die wieder und wieder von Israel umgebracht werden?

Die Menschen, die beim Hören solcher Parolen „Israel“ mit „Juden“ gleichsetzen, sind jene, die ein Antisemitismusproblem haben

 Offensichtlich regen sich einige Menschen speziell über diese Parole auf, und zwar aus zwei Gründen. Einer ist die vermeintliche Gleichsetzung von Juden und Israel. Wenn also "Israel" gesagt wird, hören manche Leute "Juden" – unabhängig vom Kontext dessen, was gesagt wird und von wem. Aber wenn eine Person „Juden“ denkt als Synonym für „Israel“, ist sie diejenige mit dem Antisemitismusproblem, nicht die Parole. .

Eine Möglichkeit, dieses Problem zu vermeiden, wäre es, so war es einem Kommentar eines deutschen Facebook-Threads kürzlich zu entnehmen, „Netanyahu“, anstatt Israel zu sagen. Netanyahu hat sicherlich Blut an seinen Händen, aber nicht nur Netanyahu. Israel hat vor Netanyahu Kinder in Gaza getötet und wird es wahrscheinlich auch nach ihm tun – mit dem Segen Deutschlands und der Europäischen Union.

Es ist nicht eine einzelne Person, es ist eine ganze Maschinerie. Es ist das israelische Bildungssystem, das Kinder vom Kindergarten an dazu erzieht, Soldatinnen und Soldaten zu werden; es ist der obligatorische Militärdienst, der eine vollständig  militarisierte Gesellschaft schafft; es sind die Medien, die sich mit der Armee verbünden und immer die ideologische Rechtfertigung im Voraus für jedes Kriegsverbrechen liefern. Es ist eine Kultur, die das permanente Gefühl der Opferrolle aufrechterhält, die die Nakba und die Besatzung leugnet, die Palästinenser*innen entmenschlicht, die ihre Jugend losschickt, um zu Besetzen, zu Schießen und zu Töten. Israel vollzieht das Töten: Staat und Gesellschaft.

Der zweite Grund, warum eine solche Parole die Menschen aufregt, ist die jahrhundertealte antisemitische Ritualmordlegende, die Anschuldigung also, dass Juden christliche Kinder töten und deren Blut zu nutzen. Dies findet sich in der Geschichte verschiedener Regionen, herrscht besonders aber in Europa vor. Dies ist in der Tat ein schreckliches antisemitisches Stereotyp. Doch die christliche europäische Geschichte ist kein universeller Dreh- und Angelpunkt. Sie ist Bezugspunkt einer bestimmten ethnischen und religiösen Gruppe in Deutschland, nämlich der weißen Deutschen mit christlichem Erbe. Folglich ist sie auch ein Bezugspunkt für Jüdinnen und Juden in Deutschland.

In Deutschland haben verschiedene ethnische und religiöse Gemeinschaften unterschiedliche historische Verläufe und kulturelle Assoziationen. Die Erwartung, alle Menschen würden die primär christlich-europäischen Empfindungen und Assoziationen teilen, ist problematisch. Für palästinensische Flüchtlinge, die lange nach dem Holocaust nach Deutschland kamen, ruft "Kindermörder Israel" eher Assoziationen zu den palästinensischen Kindern hervor, die durch das israelische Militär und die israelische Politik getötet wurden, als zu der Ritualmordlegende. Auch ist diese Ritualmordlegende  kein zentraler Bezugspunkt für israelische Juden, die in Israel aufgewachsen und sozialisiert worden sind. Ja, das ist die primäre Assoziation für diejenigen, die in oder neben der christlich-europäischen Tradition aufgewachsen sind – aber die Geschichte hier handelt nicht von ihnen. Sich selbst und seine ureigene kulturelle Assoziations- und Gefühlslandschaft als universellen Bezugspunkt zu dezentrieren, ist die Aufgabe, vor der die deutsche Gesellschaft steht. Es geht darum, dass man lernt zu sagen: Es geht hier nicht um mich.

Verbrennen israelischer Flaggen

Am 15. Mai, dem Tag, an dem der Nakba gedacht wird – der Vertreibung der Palästinenser*innen aus dem 1948 neu ausgerufenen Staat Israel –, gab es in Deutschland die bislang größten Solidaritätskundgebungen mit dem palästinensischen Volk. Es war unmöglich zu ignorieren, wie sehr diese Demonstrationen von unterschiedlichsten Gruppierungen geprägt waren, vom lateinamerikanischen Block bis zu intersektionalen Feministinnen.

Doch der Bericht des Guardian über die Proteste hob stattdessen die Verurteilung des angeblichen Antisemitismus durch deutsche Politiker*innen hervor, ignorierte Reden von jüdischen Aktivist*innen und Gruppen wie der Jüdischen Stimme oder dem Jüdischen Bund und konzentrierte sich stattdessen auf solche Schreckensmeldungen wie das Verbrennen einer israelischen Flagge. Ein Großteil der Mainstream-Medienberichterstattung über die Demonstrationen zum Nakba-Tag erwähnte weder, was „Nakba“ bedeutet, noch erklärte sie, dass die Nakba durch andauernde ethnische Säuberung und der Verweigerung des Rückkehrrechts der Palästinenser*innen fortgesetzt wird. In Berlin, der Stadt mit der größten palästinensischen Bevölkerung in Europa, leben Menschen, deren Familienmitglieder in den letzten Tagen von Israel ermordet wurden. Diesen Protesten wird oft das Label "gegen" Israel gegeben, aber die Tatsache, dass sie in erster Linie "für" palästinensisches Leben sind, wird übersehen.

Dies ist beispielhaft für den öffentlichen Diskurs zu diesem Thema in Deutschland, Großbritannien und anderswo: Israelische Flaggen zählen, palästinensische Leben nicht. Wenn Politiker*innen und Medien sich größere Sorgen um das Verbrennen von Nationalflaggen machen als um das Niederbrennen von Häusern und Wohnvierteln und die Tötung ganzer Familien, dann sollten sie sich wirklich einmal intensiv mit sich selbst beschäftigen.

Auch hier steht die israelische Flagge in den Augen des Betrachters für „die Juden“ (und der Betrachter geht davon aus, dass jeder seine Assoziationen teilt). Man kann dem Davidstern gegenüber so empfindsam sein, wie man will, aber auf ein Haus in Sheikh Jarrah gemalt, ist er lediglich ein Symbol für Gewalt und ethnische Säuberung. Auf die israelische Flagge gemalt ist er ein Symbol für Kolonialisierung, Besatzung und ein Apartheidregime.

Während des Channukah-Festes 2017 stellte die jüdische Antifa Berlin Gruppe eine Chanukkia auf mit den Worten: "Auf unserer Chanukkia befinden sich statt Kerzen nun die Symbole menschlicher Unfreiheit – die Nationalflaggen repressiver Regime aus aller Welt, die auf ihre Weise für das globale Elend verantwortlich sind. Ihre Verehrung als Heiligtümer ist die moderne Form des Götzendienstes." Im Gegensatz zu dem, was einige deutsche Politiker*innen denken, sind nicht alle Juden gleich.

From the River to the Sea, Palestine will be Free

Ein weiterer Slogan, der für die meisten deutschen Ohren – und für viele jüdische – schwer zu ertragen ist, lautet: "From the River to the Sea, Palestine will be free" (Vom Fluss bis zum Meer wird Palästina frei sein). Ebenso wie der hohle Ausdruck "Israels Existenzrecht" beschwört er die Angst herauf, Juden seien ihrer Vernichtung preisgegeben, wenn sie nicht im Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer einen Staat aufrechterhalten würden, den sie kontrollieren können. Für viele Menschen bedeutet kein Israel keine Juden. Wer diese Angst nährt, setzt die Logik fort, derzufolge jüdisches Leben abhängig bleibt von der demografischen Vorherrschaft einer bestimmten Gruppe über die andere, sowie von ihrer politischen Dominanz. In dieser Logik kann jüdisches Leben also nie wirklich existieren in einem Rahmenwerk mit gleichberechtigten, demokratischen Bürgerrechten, in all ihrer Unvollkommenheit.

Doch offene Antisemiten sind nicht die einzigen, die Israel und Juden in einen Topf werfen. Der israelische Staat gibt sein Bestes, um sich als Stimme der jüdischen Gemeinden der Welt zu positionieren. Die deutschen Medien bezeichnen Israel oft unreflektiert als "den jüdischen Staat", obwohl demokratische Prinzipien nahelegen würden, dass ein Staat weder ethnisch noch religiös exklusiv sein sollte.

Tragischer Weise stellen sich auch jüdische Mainstream-Institutionen in vielen Ländern in eine Reihe mit israelischer Politik, ganz gleich was passiert, und schwenken bei jeder Gelegenheit israelische Flaggen, auch in den Momenten, in denen Bomben fallen und ganze Familien in Gaza töten. Das macht es umso schwieriger, zwischen Israel und Juden zu unterscheiden – doch eine antirassistische Position verlangt, dass wir das tun.

Hier wird auch eine tiefere politische und philosophische Frage aufgeworfen. Was bedeutet es überhaupt, dass Israel existiert? Ich war ein Kind, als meine Familie nach Israel einwanderte, ich habe die israelische Staatsbürgerschaft und ich bin im israelischen Bildungssystem aufgewachsen. Ich wusste nicht, wo Palästina liegt und was es genau ist, bis ich erwachsen war.

Wer den Tod in Gaza wählt, wählt nicht das Leben

für jemand anderen. Man wählt den Tod.

Ich bin in Haifa aufgewachsen, ohne zu wissen, dass es eine palästinensische Stadt war und ist. Recht oder nicht Recht, Israel existiert für mich – als Nationalstaat, als System, als Gesellschaft, die viel zu dem beigetragen hat, wer ich heute bin. Es existiert als ein koloniales Projekt und als eine Maschinerie der Unterdrückung. Und doch ist genau dieses Land, auf dem Israel existiert und das es ständig versucht, sich anzueignen, zu besetzen und unter seine Kontrolle zu bringen, Palästina.

Mein Verständnis von diesem Land ist weder religiös noch essentialistisch, sondern politisch. Ich begreife das Land zwischen dem Fluss und dem Meer als Palästina, als kolonisiertes Land. Dieses Verständnis kommt aus dem Respekt davor, was das Land für die Menschen bedeutet, die kolonisiert und vertrieben wurden. Sich zu weigern, diesen geopolitischen Raum als Palästina anzuerkennen, würde zu seiner Kolonisierung beitragen und seine Auslöschung vervollständigen. Das müssen wir ablehnen. Für mich ist Haifa also Palästina, auch wenn es gleichzeitig das Israel ist, in dem ich aufgewachsen bin.

Palästina existiert als Gebiet, als Land, aber auch als Idee von Freiheit, Heimkehr und Dekolonisation. Es existiert auch als eine palästinensische Gesellschaft, in der Diaspora und in Palästina. Sie überschneidet sich in unterschiedlichem Maße mit der jüdisch-israelischen und existiert in verschiedenen Konstellationen kolonialer Kontrolle, vom belagerten Gaza über das besetzte Westjordanland bis hin zur israelischen Staatsbürgerschaft von Palästinensern.

Jüdisches Leben erfordert nicht den Tod von Palästinenser*innen

Letztlich bezieht dieses israelische Apartheidsystem seine Legitimation unter anderem daraus, dass es den Juden in Palästina und auf der ganzen Welt erzählt: Wenn wir zusammenbrechen, werdet Ihr es auch. In Deutschland wird diese Botschaft ebenfalls laut und deutlich vermittelt. Die Apartheid in Südafrika stützte sich auf einen ähnlichen Mythos und überzeugte ihre Verbündeten in Großbritannien, den USA, Deutschland und anderswo, dass ihr Fall eine Vernichtung der Weißen durch die Schwarzen auslösen würde.

Doch was, wenn das nicht stimmt? Was, wenn dieses System eines Tages zusammenbricht – so wie die Sowjetunion zusammengebrochen ist, oder die Deutsche Demokratische Republik, oder die Tschechoslowakei – und wir hinterher ziemlich lebendig durchatmen können?

Man beruft sich auf die Raketen der Hamas – nicht nur Israel tut das, sondern auch Deutschland, die EU, die USA – um den Tod und die Zerstörung in Gaza zu rechtfertigen. Als müsse Gaza brennen, damit Juden leben können.

Was wäre, wenn jüdisches Leben nicht palästinensischen Tod erfordern würde? (Und selbst wenn es so wäre, ist mein Leben sicherlich nicht mehr wert als das Leben von Rajaa Abu Al-Ouf, einer engagierten Sozialarbeiterin und Psychologin, die sich für die psychologische Betreuung von Kindern einsetzte und letzte Woche in Gaza mit ihren Kindern ermordet wurde).

Was, wenn jüdische Existenz nicht bedeutet, dass wir als Juden notwendigerweise Besatzer, Kolonialisten, Kindermörder werden müssen? Was, wenn die Erwartung an uns, all das zu werden, eigentlich die schlimmste antisemitische Legende von allen ist?

Wer den Tod in Gaza wählt, wählt nicht das Leben für jemand anderen. Man wählt den Tod.

Denken wir an die Israelis an der Grenze zu Gaza, die unter dem Raketenbeschuss leiden. Sobald Bewohner*innen des Südens oder anderswo sich weigern, als Rechtfertigung für die Massaker in Gaza zu dienen und von einer friedlichen Lösung zu sprechen beginnen, werden sie oft als Verräter gebrandmarkt (ganz recht, ich spreche hier nicht von der Hamas, denn wenn es nicht die Hamas oder der Islamische Dschihad war, dann war es jemand anderes. Man kann nicht Millionen von Menschen im größten Gefängnis der Welt festhalten und erwarten, dass sie einem Blumen zuwerfen).

Israel und die internationale Gemeinschaft hatten die Chance, als die Hamas demokratisch gewählt wurde, ihr den Übergang von einer militarisierten Gruppe zum politischen Akteur zu ermöglichen. Viele Regierungen begannen als "Terrororganisationen". Nelson Mandela stand in den USA bis 2008 auf der Terror-Watchlist. In Deutschland wurde er lange Zeit von aufeinanderfolgenden deutschen Regierungen als "Staatsterrorist" betrachtet. Bezüglich der Hamas gab es offensichtlich ein Interesse, keine legitime palästinensische Souveränität zulassen zu wollen.

Das ist auch mein Appell an meine jüdischen Mitbürger*innen in Deutschland und darüber hinaus. Ich kenne unsere generationsübergreifenden Traumata. Viele von uns wissen aus der Generation unserer Großeltern ganz genau, was es bedeutet, wenn die ganze Familie ermordet wird. Wie Verlust und Trauma – und ja, auch Angst – in den nächsten Generationen weiterleben.

Angst ist ein mächtiges Instrument, das benutzt wird, um Menschen zu kontrollieren – lassen wir uns also nicht kontrollieren. Lasst uns Angst vor dem haben, wovor wir wirklich Angst haben müssen: weiße Vorherrschaft und Kolonialismus, Faschismus und Nationalismus, mörderische Regime und Apartheid – selbst wenn wir manchem davon in Israel begegnen.

Als jüdische queere Frau weiß ich, dass ich bei meinen palästinensischen Freund*innen und Kamerad*innen wirklich sicherer bin als beim deutschen Establishment. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit all denen, die davon betroffen sind, gegen Antisemitismus und alle Formen von Rassismus arbeiten müssen – aber nicht, indem wir falschen Trost bei weißen Rettern suchen. Solange sich Juden an das weiße deutsche Establishment wenden, um sich in Sicherheit zu wiegen, wird dies niemals unsere lähmende Angst und Furcht beenden, denn wir haben ausgezeichnete Gründe, diesem Establishment nicht unser Leben anzuvertrauen... dem Establishment, das Tausende Geflüchtete im Mittelmeer ertrinken lässt und israelischen Kriegsverbrechern die Hand schüttelt, bevor es Bereitschaft zeigt, mit kritischen Jüdinnen und Juden zu sprechen.

Also, lasst uns tief durchatmen, und dann gemeinsam laut und deutlich sagen: From the River to the Sea Palestine will be free