Stellungnahme zur Jerusalem Declaration on Antisemitism
Wir als Jüdische Stimme begrüßen nachdrücklich die Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA). Nach den jahrelangen Schäden, die von der seit 2016 verbreiteten „Arbeitsdefinition“ der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) verursacht wurden, gibt es endlich ein konkurrenzfähiges Dokument. Seit Jahren beklagen nicht nur Aktivist*innen und Akademiker*innen, sondern gar einer der Hauptbeteiligten, Kenneth Stern, dass das Dokument als allgemeingültiger Maßstab zur Einschränkung der Meinungsfreiheit angewendet wird. Von über 200 Wissenschaftler*innen mit explizit jüdischem Bezug aus Fachrichtungen wie Judaistik, Geschichte, Antisemitismusforschung, Holocaustforschung oder Philosophie unterzeichnet, hat die JDA unvergleichlich viel mehr Gewicht als jenes schlecht geschriebene Ergebnis eines Lobbygremiums. Jedes Mal, wenn sich von Politiker*innen in Deutschland oder anderswo auf das IHRA-Dokument als zentrale Quelle zum Verständnis von Antisemitismus berufen, kann nun gekontert werden: Das sieht die Jerusalem Declaration aber anders.
Die JDA stellt klar, dass bisher Unsagbares durchaus verhandelbar ist; die Unterstützung von BDS oder die Forderung nach einem einzigen israelisch-palästinensischen Staat sind nicht an sich antisemitisch. Der Hinweis, dass Boykott ein altbekanntes politisches Mittel ist, gegen was oder wen auch immer, ist sehr willkommen. Auch politische Aussagen, die über das Sachliche hinausgehen, sind nicht alleine deswegen antisemitisch; es gibt auch unvernünftige politische Rede, die nicht antisemitisch ist. Während das IHRA-Dokument zwar schwammig ist, aber bei seinen Verweisen auf Bezüge zu Israel immer wieder insinuiert, dass ihnen Antisemitismus zu Grunde liege, artikuliert die JDA sehr genau, wie bestimmte Denkbilder in manchen Zusammenhängen antisemitisch sein könnten, in anderen aber nicht; dabei entkräftet sie die automatische und in Deutschland sehr verbreitete Annahme, jede noch so geringe Überschneidung mit bekannten ‚Ressentiments‘ oder ‚Stereotypen‘ (etwa Lobbyarbeit und politische Einflussnahme) sei im gleichen Sinne wie die Ressentiments selbst zu behandeln. Mit anderen Worten: Sie regt an zum Denken, nicht zum Gehorchen. Dem Automatismus, der immer wieder zur Verleumdung von palästinasolidarischen Menschen führt, auch von Jüd*innen, auch von der Jüdischen Stimme, wird der Boden entzogen.
Ein zentrales Paradox im Diskurs des sogenannten „israelbezogenen Antisemitismus“ sowie in der IHRA-Definition ist, dass einerseits die Ineinssetzung von Jüd*innen und Israel als antisemitisch verurteilt wird, zum Beispiel bei Anfeindungen gegen jüdische Menschen aufgrund der Gewalttaten des Staates, andererseits aber diese Verbindung fortgesetzt wird – ein Teufelskreis also. Nur eine Trennung der beiden Kategorien kann solche Tendenzen eindämmen, und diese Trennung wird von der JDA unternommen. Insofern ist es wichtig, dass von allen Diskursbeteiligten hierüber diskutiert wird, nicht nur von offizieller jüdischer Seite. Außerdem müssen proisraelische Individuen und Organisationen nun stärker mit der Frage konfrontiert werden, ob ihre eigene Haltung nicht ebenfalls von antisemitischer Verallgemeinerung geprägt ist.
Die JDA betont einen Grundsatz, der für unsere Arbeit zentral ist: Antisemitismus ist eine Form von Rassismus unter vielen, auch wenn er eine eigene Geschichte und eigene Merkmale hat – was schließlich für jede andere Form der rassistischen oder anderweitig personenbezogenen Ausgrenzung oder Benachteiligung ebenso gilt. Es wird deutlich gemacht, dass der Kampf gegen Antisemitismus mit dem Kampf gegen alle Formen von Diskriminierung zusammengedacht werden muss, statt ihn als Sonderphänomen zu behandeln. Das ist in Deutschland besonders wichtig, wo durch die Antisemitismusindustrie und ihre politischen Vertreter*innen die Dringlichkeit anderer Antidiskriminierungsarbeit zu oft in den Hintergrund gerät.
All dies bedeutet nicht, dass es keinen Grund zur Kritik an der JDA gäbe. Schon der Name sorgt dafür, dass die Israel-Palästina-Frage sofort im Spiel ist; Antisemitismus ohne Israel-Bezug wird zwar in den ersten Punkten behandelt, steht aber durch die Namensgebung automatisch an zweiter Stelle. Das ist natürlich eine Reaktion auf den wesentlich durch die IHRA-Definition vergifteten Diskurs, und die JDA betont mehrmals, dass sie sich als Korrektur jener versteht. Aber trotzdem könnte man kritisieren, dass die JDA sich auf dieses Spiel einlässt. Außerdem betont sie zwar, dass Antisemitismus und das Verständnis dessen keinen Sonderstatus haben sollten, leistet dieser Annahme aber potenziell Vorschub, indem sie sich selbst ausdrücklich als „Ersatz“ für die IHRA-Definition empfiehlt. Wenngleich sie erklärt, dass auch sie keinen verbindlichen Kodex darstellen will, fehlt doch der Hinweis, dass die Annahme, ein solches Dokument sei überhaupt und alleine für den Antisemitismus nötig, nicht aber für Islamophobie, antischwarzen Rassismus, Queerfeindlichkeit u.ä., an sich problematisch ist. Bei der Erwähnung anderer Rassismen gäbe es durchaus Raum für eine Anerkennung innerjüdischer Diskriminierung gegenüber Jüd*innen nichteuropäischer Herkunft.
Auch könnte die palästinensische Perspektive stärker berücksichtigt werden – zum Beispiel hätte eine scheinbar klassisch antisemitische Aussage über die exzessive Macht ‚der Juden‘ oder die einmalige Bösartigkeit Israels eine komplett andere Bedeutung, wenn sie von traumatisierten Bewohner*innen des belagerten und bombardierten Gaza-Streifens gemacht würde. Allerdings werden manche dieser Fragen und einige andere im FAQ-Anhang behandelt, der in einem weiteren Gegensatz zum IHRA-Text deutlich macht, wie die erläuterten Prinzipien bei der Bewertung von Aussagen und Handlungen dienlich sein können. Dies zeigt, wie sehr die Autor*innen auch über einen möglichen Missbrauch ihres Dokuments nachgedacht haben.
Es soll hier aber nicht um den Wortlaut jeder einzelnen Formulierung gehen. Der Nutzen und die Stärken der JDA überwiegen bei weitem ihre Schwächen oder Auslassungen, vor allem im Zusammenhang des eingeengten und polarisierten Diskurses zu Israel-Palästina. Wir schätzen sie und ermutigen unsere Mitstreiter*innen dazu, sie oft und nachdrücklich zu erwähnen, wenn es um dieses leidige Thema geht. Dies wird hierzulande durch die deutsche Fassung erleichtert, die erfreulicherweise auch auf der Webseite steht; möge dadurch das schädliche IHRA-Dokument untergraben und letztendlich entkräftet werden. Als Organisation in Deutschland lebender Jüd*innen und untrennbarer Teil der deutschen Gesellschaft ist es nach wie vor unsere Priorität, Rassismus zu bekämpfen, und wir begrüßen jedes Mittel, das dazu beiträgt.
Der Vorstand
Die JDA stellt klar, dass bisher Unsagbares durchaus verhandelbar ist; die Unterstützung von BDS oder die Forderung nach einem einzigen israelisch-palästinensischen Staat sind nicht an sich antisemitisch. Der Hinweis, dass Boykott ein altbekanntes politisches Mittel ist, gegen was oder wen auch immer, ist sehr willkommen. Auch politische Aussagen, die über das Sachliche hinausgehen, sind nicht alleine deswegen antisemitisch; es gibt auch unvernünftige politische Rede, die nicht antisemitisch ist. Während das IHRA-Dokument zwar schwammig ist, aber bei seinen Verweisen auf Bezüge zu Israel immer wieder insinuiert, dass ihnen Antisemitismus zu Grunde liege, artikuliert die JDA sehr genau, wie bestimmte Denkbilder in manchen Zusammenhängen antisemitisch sein könnten, in anderen aber nicht; dabei entkräftet sie die automatische und in Deutschland sehr verbreitete Annahme, jede noch so geringe Überschneidung mit bekannten ‚Ressentiments‘ oder ‚Stereotypen‘ (etwa Lobbyarbeit und politische Einflussnahme) sei im gleichen Sinne wie die Ressentiments selbst zu behandeln. Mit anderen Worten: Sie regt an zum Denken, nicht zum Gehorchen. Dem Automatismus, der immer wieder zur Verleumdung von palästinasolidarischen Menschen führt, auch von Jüd*innen, auch von der Jüdischen Stimme, wird der Boden entzogen.
Ein zentrales Paradox im Diskurs des sogenannten „israelbezogenen Antisemitismus“ sowie in der IHRA-Definition ist, dass einerseits die Ineinssetzung von Jüd*innen und Israel als antisemitisch verurteilt wird, zum Beispiel bei Anfeindungen gegen jüdische Menschen aufgrund der Gewalttaten des Staates, andererseits aber diese Verbindung fortgesetzt wird – ein Teufelskreis also. Nur eine Trennung der beiden Kategorien kann solche Tendenzen eindämmen, und diese Trennung wird von der JDA unternommen. Insofern ist es wichtig, dass von allen Diskursbeteiligten hierüber diskutiert wird, nicht nur von offizieller jüdischer Seite. Außerdem müssen proisraelische Individuen und Organisationen nun stärker mit der Frage konfrontiert werden, ob ihre eigene Haltung nicht ebenfalls von antisemitischer Verallgemeinerung geprägt ist.
Die JDA betont einen Grundsatz, der für unsere Arbeit zentral ist: Antisemitismus ist eine Form von Rassismus unter vielen, auch wenn er eine eigene Geschichte und eigene Merkmale hat – was schließlich für jede andere Form der rassistischen oder anderweitig personenbezogenen Ausgrenzung oder Benachteiligung ebenso gilt. Es wird deutlich gemacht, dass der Kampf gegen Antisemitismus mit dem Kampf gegen alle Formen von Diskriminierung zusammengedacht werden muss, statt ihn als Sonderphänomen zu behandeln. Das ist in Deutschland besonders wichtig, wo durch die Antisemitismusindustrie und ihre politischen Vertreter*innen die Dringlichkeit anderer Antidiskriminierungsarbeit zu oft in den Hintergrund gerät.
All dies bedeutet nicht, dass es keinen Grund zur Kritik an der JDA gäbe. Schon der Name sorgt dafür, dass die Israel-Palästina-Frage sofort im Spiel ist; Antisemitismus ohne Israel-Bezug wird zwar in den ersten Punkten behandelt, steht aber durch die Namensgebung automatisch an zweiter Stelle. Das ist natürlich eine Reaktion auf den wesentlich durch die IHRA-Definition vergifteten Diskurs, und die JDA betont mehrmals, dass sie sich als Korrektur jener versteht. Aber trotzdem könnte man kritisieren, dass die JDA sich auf dieses Spiel einlässt. Außerdem betont sie zwar, dass Antisemitismus und das Verständnis dessen keinen Sonderstatus haben sollten, leistet dieser Annahme aber potenziell Vorschub, indem sie sich selbst ausdrücklich als „Ersatz“ für die IHRA-Definition empfiehlt. Wenngleich sie erklärt, dass auch sie keinen verbindlichen Kodex darstellen will, fehlt doch der Hinweis, dass die Annahme, ein solches Dokument sei überhaupt und alleine für den Antisemitismus nötig, nicht aber für Islamophobie, antischwarzen Rassismus, Queerfeindlichkeit u.ä., an sich problematisch ist. Bei der Erwähnung anderer Rassismen gäbe es durchaus Raum für eine Anerkennung innerjüdischer Diskriminierung gegenüber Jüd*innen nichteuropäischer Herkunft.
Auch könnte die palästinensische Perspektive stärker berücksichtigt werden – zum Beispiel hätte eine scheinbar klassisch antisemitische Aussage über die exzessive Macht ‚der Juden‘ oder die einmalige Bösartigkeit Israels eine komplett andere Bedeutung, wenn sie von traumatisierten Bewohner*innen des belagerten und bombardierten Gaza-Streifens gemacht würde. Allerdings werden manche dieser Fragen und einige andere im FAQ-Anhang behandelt, der in einem weiteren Gegensatz zum IHRA-Text deutlich macht, wie die erläuterten Prinzipien bei der Bewertung von Aussagen und Handlungen dienlich sein können. Dies zeigt, wie sehr die Autor*innen auch über einen möglichen Missbrauch ihres Dokuments nachgedacht haben.
Es soll hier aber nicht um den Wortlaut jeder einzelnen Formulierung gehen. Der Nutzen und die Stärken der JDA überwiegen bei weitem ihre Schwächen oder Auslassungen, vor allem im Zusammenhang des eingeengten und polarisierten Diskurses zu Israel-Palästina. Wir schätzen sie und ermutigen unsere Mitstreiter*innen dazu, sie oft und nachdrücklich zu erwähnen, wenn es um dieses leidige Thema geht. Dies wird hierzulande durch die deutsche Fassung erleichtert, die erfreulicherweise auch auf der Webseite steht; möge dadurch das schädliche IHRA-Dokument untergraben und letztendlich entkräftet werden. Als Organisation in Deutschland lebender Jüd*innen und untrennbarer Teil der deutschen Gesellschaft ist es nach wie vor unsere Priorität, Rassismus zu bekämpfen, und wir begrüßen jedes Mittel, das dazu beiträgt.
Der Vorstand