PROTESTBRIEF GEGEN DIE INVASION VON JENIN
Nach dem brutalen Einmarsch ins Flüchtlingslager Jenin, der nicht nur 12 Tote Palästinenser zur Folge hatte, sondern auch 100 Verletzte, und bei dem Hunderte von Familien in die Flucht getrieben und unzählige Häuser verwüstet wurden, wurde vom ECCP (European Coordination of Committees and Associations for Palestine) ein Protestschreiben an die deutsche Außenministerin verfasst, das in dieser Form verbreitet werden kann.
https://www.eccpalestine.org/jenin-dringender-handlungsbedarf-erforderlich/
Im Spiegel gab es sogar einen schonungslos kritischen Artikel zur israelischen Vorgehensweise: https://tinyurl.com/46v5ftuf Untenstehend der Text, da der Artikel hinter einer Paywall steht.
48-Stunden-Militäroperation
Dschenin zeigt, wie brutal Israels Rechtsextremisten ihre Politik durchsetzen
Für Palästinenser kein Platz mehr: Die israelische Militäroperation offenbart die Härte, mit der die neue Regierung im Westjordanland agiert. Doch die EU oder USA scheinen das verdrängen zu wollen. Was muss noch passieren?
Eine Analyse von Julia Amalia Heyer
07.07.2023, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 28/2023
Es war die größte Operation israelischer Streitkräfte im Westjordanland seit mehr als zwei Jahrzehnten. Kampfhubschrauber, bewaffnete Drohnen, Militärkonvois samt Bulldozern und mehr als tausend Soldaten. Im Fadenkreuz der israelischen Armee: das zur Stadt gewachsene Flüchtlingslager von Dschenin.
Etwa 48 Stunden dauerte der Einsatz, das Ergebnis: 12 Tote und mehr als 100 Verletzte auf palästinensischer Seite; ein getöteter israelischer Soldat. Dschenin, vorher schon nicht pittoresk, ist jetzt ein Ort der Verwüstung.
Der Abzug war bereits im Gange, da fasste Benjamin Netanyahu in Worte, was wohl niemandem, der das Geschehen in Nahost in den vergangenen Wochen, Monaten, Jahren, Jahrzehnten auch nur kursorisch verfolgt, verwundert: Dieser Einsatz, sagte der israelische Premier, werde kein Einzelfall bleiben. »Wir werden weitermachen, solange es nötig sein wird, Terror zu bekämpfen.«
2023 ist schon jetzt das blutigste Jahr im Westjordanland seit dem Ende der zweiten Intifada 2005. 135 Palästinenser und 24 Israelis wurden bereits getötet. Die Zahl der Opfer auf der jeweiligen Seite mag in etwa das Kräfteverhältnis widerspiegeln.
»Wir werden weitermachen, solange es nötig sein wird, Terror zu bekämpfen«
Benjamin Netanyahu, israelischer Regierungschef
Die Militäroperation in Dschenin war eine Art Mikrokrieg, ein Fanal, das rasch zur gängigen Praxis werden könnte. Das nächste Ziel liegt womöglich nur rund 40 Kilometer entfernt: Nablus. Auch diese Stadt gilt als Hort des Widerstands gegen die israelischen Besatzer.
Die Regierung in Jerusalem , seit gut sechs Monaten am Ruder, hat die Eskalation offenbar zum politischen Prinzip erhoben. Die moderateren Kräfte in ihr spielen keine Rolle. Nie war ein israelisches Kabinett nationalistischer, religiöser, extremistischer.
Reaktion der internationalen Gemeinschaft: Langes Schweigen
Wer denkt, dass die internationale Gemeinschaft dieser Regierung nun anders begegnen würde – geht es hier doch auch um den Konsens internationalen Rechts – darf weiter tapfer darauf warten. Die Reaktionen auf die Operation »Heim und Garten« in Dschenin jedenfalls waren die altbekannten: Erst stundenlanges Schweigen, dann mahnte die Uno Verhältnismäßigkeit an, die USA den »Schutz von Zivilisten«, und die EU rief »alle Parteien zur Deeskalation« auf.
Was sich allerdings verändert hat, ist die Natur des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern – vor allem im Westjordanland. Das zeigt auch die Operation in Dschenin.
Und was zuerst eher langsam vonstattenging, wurde in den vergangenen Monaten regelrecht vorangepeitscht. Seit Antritt dieser Regierung liegt offen zutage, was immer noch wenige Beobachter im Westen zu realisieren scheinen: Hier wird keine Lösung mehr gesucht. Hier geht es um Eskalation. Der Stärkere gewinnt.
Das stimmt in gewisser Weise sogar für das Kernland, wo Israelis nun die 26. Woche in Folge gegen die Pläne ihrer Regierung
demonstrieren – aber insbesondere gilt es für das Verhältnis mit den Palästinensern.
Palästinenser in Dschenin am Dienstag
Foto: Majdi Mohammed / AP / dpa
»Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel«, so lautet der erste Satz des Koalitionsvertrags der regierenden Parteien. Klarer geht es nicht. Die Dschenin-Operation war auch Beispiel dafür, wie Jerusalem in Zukunft versuchen könnte, diesen Satz umzusetzen. Dieser Anspruch auf ein »Groß-Israel« , in dem die Grenzen von 1948 endgültig keine Rolle mehr spielen, wird seither täglich untermauert.
Mit Worten etwa, wenn Heimatministerin Orit Strock vom Bündnis Religiöser Zionismus erklärt, man werde sich auch den Gazastreifen wieder zurückholen. Aber vor allem mit Taten.
Chomesch, eine Siedlung im Westjordanland, die der damalige Premierminister Ariel Scharon 2005 geräumt hatte, wurde jetzt wieder besiedelt. Die Siedlergewalt gegen Palästinenser nimmt beständig zu. Ein unverhältnismäßig großer Teil des Staatshaushalts fließt in Infrastruktur jenseits der Grünen Linie. Es gibt ständig brutale Razzien in eigentlich palästinensisch verwalteten Gebieten, wie Dschenin oder Nablus.
De-facto-Annexion von Teilen des Westjordanlands
Nichts verdeutlicht den Anspruch auf das »ganze Land« so sehr wie die Verlagerung der sogenannten Zivilverwaltung. Der Schritt bezeugt, dass sich die völkerrechtlich zeitlich begrenzte Besatzung des Westjordanlands in eine auf Dauer angelegte israelische Kontrolle verwandeln soll. Der Begriff für das, was da passiert lautet: Annexion.
Und auf diesem neuen Posten, zuständig für die im Westjordanland lebenden Israelis, sitzt nun mit Finanzminister Bezalel Smotrich ein Siedlerideologe. Wenn Smotrich über sein Land spricht, zeigt er gern Karten, auf denen auch Teile Jordaniens zu Israel gehören. Das Volk der Palästinenser existiert für Smotrich nicht, und das sagt er auch ganz offen.
So brutal wie Smotrich selbst hat sonst nur sein Kabinettskollege, Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, diesen massiven Einsatz »gegen den Terror« gefordert. Der ultrarechte Hardliner wurde 2007 wegen »Unterstützung einer terroristischen Vereinigung« verurteilt. So viel zum Terror-Begriff im Nahen Osten. Ben-Gvir will die Todesstrafe für Terroristen einführen, die, ginge es nach ihm, nur für Palästinenser gelten soll.
Gewalt statt Oslo
Die Parameter des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern haben sich derart grundlegend verschoben, dass es wirkt, als hätte der Osloer Friedensprozess gar nie stattgefunden. Dabei gräbt sich die Gewalt immer tiefer in diesen umkämpften Flecken Land. Wie zuletzt vor 20 Jahren.
Palästinenser erschießen, erstechen, überfahren Israelis, an Checkpoints, an Tankstellen, wo auch immer. Israel führt Mikrokriege, wie in Dschenin.
Trotzdem scheinen diejenigen, die auf diesen Konflikt positiv einwirken könnten – die USA oder die EU – das weiter verdrängen zu wollen.