Published 25. März 2024
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Warum ich das Wort "Antisemitismus" boykottiere - Artikel von Jason Oberman
Antijüdischer Rassismus in Deutschland
(published in English here)
Auf einer Demonstration gegen den anhaltenden Völkermord und die Besetzung Palästinas habe ich zum ersten Mal tief in meinem Inneren gespürt, was es für mich bedeutet, Jude zu sein: entschlossen für Gerechtigkeit für alle aufzutreten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Ich fühlte nicht nur eine tiefe Verbundenheit mit mir selbst und meiner persönlichen Geschichte, sondern auch so viel Liebe für die Palästinenser:innen und Liebe von ihnen und den vielen Menschen, die sich solidarisch zeigten. In den Monaten nach dem 7. Oktober traf ich so viele Juden wie seit vielen Jahren nicht mehr, und es war das erste Mal, dass ich so viele jüdische Menschen sah, die ihr Judentum in der Öffentlichkeit stolz zur Schau stellten, neu definierten und sogar feierten. Obwohl wir in einer herzlichen und vielfältigen Gemeinschaft eine neue jüdische Identität gefunden hatten, wurden wir von den deutschen Medien, der Regierung und den Sicherheitskräften als "Antisemit:innen" verunglimpft. Und die Verleihung dieses Etiketts hatte Konsequenzen.
Ich erlebte und erfuhr, wie jüdische Mitbürger:innen und Verbündete verhaftet wurden, oft brutal, und wie sie wegen Anstiftung zu Hass, zu "antisemitischem" Hass, angeklagt wurden. Schilder mit der Aufschrift "Vom Fluss zum Meer", "Vom Fluss aus sehen wir nichts als Gleichheit", "Als Jude und Israeli: Stoppt den Völkermord in Gaza" oder "Noch ein Jude für ein freies Palästina", ebenso wie ein Davidstern mit den palästinensischen Farben, konnten Verhaftungen und manchmal sogar Schläge nach sich ziehen. Kürzlich wurde ein jüdischer israelischer Aktivist, Historiker und Wissenschaftler, also eine sachkundige Quelle zum Thema "Antisemitismus", verhaftet und angeklagt, weil er den Präsidenten der Freien Universität auf einer Demonstration als "Antisemit" bezeichnet hatte. Sehr viele Fälle sind bekannt geworden, in denen Palästinenser:innen und People of Color brutal angegriffen und verhaftet wurden, oft bei Veranstaltungen, die von jüdischen Organisationen mitorganisiert oder ausschließlich von ihnen organisiert wurden.
Ich war zwar etwas überrascht über die Auslegung des Begriffs "Antisemitismus" durch die Berliner Polizei, aber wie sich herausstellt, gehört die deutsche Polizei zu den weltweit besten Experten auf diesem Gebiet. Ich fand heraus, dass dem Polizeiforscher Dr. Sven Deppisch zufolge die Ordnungspolizei allein, also die reguläre uniformierte Polizei, für mehr als zwei Drittel der jüdischen Opfer des Holocausts verantwortlich war und bis zum Ende der Shoah eine Million Menschen direkt mit ihren eigenen Händen tötete. Ganz abgesehen davon, dass die Entnazifizierung auf schreckliche und tragische Weise gescheitert ist (die überwiegende Mehrheit der polizeilichen Kriegsverbrecher und Massenmörder kam nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch ungeschoren davon und einige behielten sogar hochrangige Positionen), gab es in jüngster Zeit auch eine Reihe von Fällen, in denen neonazistische Terrornetzwerke innerhalb der heutigen Polizeikräfte aufgedeckt wurden. Dazu später mehr.
Deutsche Universitäten und Medien haben in letzter Zeit auch eine ganze Menge von "antisemitischen" Studierenden aufgedeckt, darunter eine Reihe jüdischer Antisemit:innen. Kürzlich veröffentlichte die Universität der Künste eine Erklärung von Lehrkräften und Mitarbeiter:innen, in der mehrere "gewalttätige antisemitische" Proteste und Aktionen auf dem Campus verurteilt wurden, die der Solidarität mit Palästina gewidmet waren. Meines Wissens waren diese Demonstrationen gewaltfrei, und es gab Juden und Jüdinnen, die dort sprachen und an der Organisation der Veranstaltungen beteiligt waren. Hier ist ein Ausschnitt einer "antisemitischen" Jüdin, die bei einer in der obigen Erklärung verurteilten Demonstration spricht. Darüber hinaus hat die Freie Universität Berlin im Dezember 2023 über 100 Polizeibeamte angefordert, um eine Gruppe "antisemitischer" Studierender, darunter auch Juden und Jüdinnen, die an einer gewaltfreien Aktion teilnahmen, zu entfernen. Ab diesem Tag gab es in den sozialen Medien einen Trend zur Verwendung des Hashtags #exmatrikulation, der leider zu einer realen juristischen Aktion führte: Um die Universitäten von ‘Antisemit:innen’ zu säubern, kündigte der Berliner Senat auf beunruhigende Weise an, die Exmatrikulation schnell wieder einführen zu wollen, ein Mittel, das im Dritten Reich unter verschiedenen Dekreten und Deckmänteln eingesetzt wurde, um politisch Andersdenkende und „Nichtarier:innen“ an der Universität zu unterdrücken und zu vertreiben. Die Abstimmung findet am 26. März 2024 statt.
Auch die deutschen Medien haben ‘antisemitische’ jüdische Studierende ausgemacht, die gegen den Völkermord Stellung bezogen. So hat beispielsweise Der Spiegel kürzlich einen jüdischen Aktivisten des Antisemitismus bezichtigt, was irgendwie mit einer raffinierten Kritik an seiner Transgender-Identität erklärt wurde. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, veröffentlichte kürzlich einen Artikel, in dem er "antisemitische" Studierende, einschließlich Juden und Jüdinnen, verurteilte (zusammen mit der postkolonialen Theorie und "Antisemitismus unter Muslimen"). Unter dem Titel des Artikels, "Hierarchien des Hasses", findet sich ein Bild, das Mitglieder der jüdischen Organisation „Jüdische Stimme“ zeigt.
Insgesamt wurde eine große Zahl jüdischer Künstler:innen und Wissenschaftler:innen wegen Antisemitismus ausgeladen und zensiert. Kürzlich wurde aufgedeckt, dass sich mindestens 80-90 Prozent der Fälle von Zensur aus dem Jahr 2023 in Deutschland gegen rassifizierte Menschen richteten, und 24-27 Prozent der Fälle gegen jüdische Menschen. Der Künstler Adam Broomberg ist einer dieser ‘antisemitischen’ Juden, dem vor kurzem Ausstellungen und Finanzierung gestrichen wurden und dessen Vertrag als Professor nicht verlängert wurde. Darüber hinaus wurde er im Mai 2023 bei einer von Juden und Jüdinnen organisierten Veranstaltung zum Gedenken an die Nakba von der Berliner Polizei verprügelt und verhaftet. Wenige Wochen nach dem Tod seiner Mutter, einer Holocaust-Überlebenden, wurde er von Stefan Hensel, einem deutschen "Beauftragten für die Bekämpfung des Antisemitismus und für jüdisches Leben", beschuldigt, den “Terrorismus gegen Juden zu legitimieren”.
Herr Hensel konvertierte erst zum Judentum, nachdem er vom Land Hamburg zum Beauftragten ernannt worden war. Nach persönlichen Recherchen und im Einklang mit einer Reihe von jüdischen Wissenschaftler:innen konnten wir keinen der 16 deutschen Landesbeauftragten und auch nicht den Bundesbeauftragten für die Bekämpfung des Antisemitismus und für jüdisches Leben zum Zeitpunkt ihrer Einsetzung als Juden identifizieren, und außer Hensel sind vermutlich alle christlich geblieben - viele sind sogar ziemlich religiös christlich. Neben den Bundes- und Landesbeauftragten scheint es eine wachsende Zahl solcher Beamten in Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden sowie in verschiedenen religiösen, schulischen und nichtstaatlichen Organisationen zu geben.
Während der Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung nur 0,33 Prozent beträgt (bei großzügiger Zählung), gibt es in Deutschland nur einen einzigen Beauftragten für Rassismusbekämpfung. Es gibt keinen speziellen Beauftragten für antimuslimischen Rassismus, obwohl etwa 6,6 Prozent der Bevölkerung den Islam praktizieren. Antijüdischer Rassismus ist sicherlich ein großes Problem in Deutschland (so wurden im Oktober Molotowcocktails auf eine Berliner Synagoge geworfen), aber auch Rassismus und Gewalt gegen andere „Nichtarier“ sind ein großes Problem. Innerhalb von zweieinhalb Wochen nach dem oben erwähnten Angriff gegen die Synagoge gab es zehn Übergriffe auf Moscheen und 53 Fälle von antimuslimischer Drohung, Gewalt und Diskriminierung. Nach Zahlen, die im selben Herbst veröffentlicht wurden, weist Deutschland die höchste Rate an Diskriminierung und Belästigung von Schwarzen in der gesamten EU auf. Es sei auch darauf hingewiesen, dass Hassverbrechen gegen die LGBTQIA+-Gemeinschaft ebenfalls zunehmen.
Das Amt für Anti-antisemitismus ist ziemlich eigenartig, da die Beamten nicht demokratisch gewählt, sondern von Ausschüssen eingesetzt werden, manchmal in Absprache mit Beamten des Zentralrats der Juden, von denen die meisten streng zionistisch eingestellt sind. So wurde beispielsweise nach einem "intensiven Diskussionsprozess" mit einem Juden und drei weißen, vermutlich christlichen Deutschen Benjamin Immanuel Hoff (nach meinen Recherchen ein Nichtjude) als Landesantisemitismusbeauftragter von Thüringen eingesetzt. Die meisten Beauftragten verwechseln den Staat Israel mit dem jüdischen Volk.
Da ist unser vielgeliebter Michael Blume, der nicht nur gerne "sehr sehr viele" Muslime des Antisemitismus bezichtigt, sondern auch die Legitimität der „Jüdischen Stimme“, einer jüdischen Organisation, der ich angehöre, in Frage stellt, indem er sie als "vorgebl. jüdisch" bezeichnet, weil sie Israel kritisiert (und der auch einige ‘antisemitische’ Juden outet). Hier können Sie die offizielle Beschwerde der „Jüdischen Stimme“ lesen. Schmerzlich soll angemerkt werden, dass im Jahr 2022 nach Angaben des Bundesministeriums etwa 84 Prozent der antisemitischen Straftaten von Rechtsextremisten und nicht von Muslimen oder linken Juden verübt wurden. Allein im Jahr 2022 gab es 20.967 rechtsextremistische Straftaten.
Das Land Hessen hat das Privileg, einen der bundesweit führenden und überaus effektiven Kämpfer gegen Antisemitismus zu haben. Uwe Becker wurde 2019 zum hessischen Antisemitismusbeauftragten ernannt und war von 2016 bis September 2021 auch Bürgermeister von Frankfurt. Becker, ein katholischer Deutscher und ehemaliger Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG), wurde kürzlich, im Jahr 2023, von einem israelischen Juden vor Gericht verklagt. Dieser Fall bezog sich auf einen Vorfall im Oktober 2019: Ironischer-, oder vielleicht tragischerweise, kämpfte Uwe Becker mit allen Mitteln für die Absage einer Veranstaltung mit dem Titel "Meinungsfreiheit statt Zensur". Nur wenige Tage nach einer neonazistischen Schießerei in einer Synagoge in Halle (bei der „Nichtarier“, darunter Juden und Muslime, zur Zielscheibe wurden), bezeichnete Becker eine israelische Jüdin, Judith Bernstein, die auf der Veranstaltung sprechen sollte, mit geschliffenen Worten als "Sympathisantin judenfeindlicher Israelhasser". Bernstein, deren Großeltern nach Auschwitz deportiert wurden, erhielt dieses Etikett offenbar aufgrund ihrer Unterstützung von BDS. Becker forderte, der Organisation, der Bernstein angehört, die Mittel zu streichen. Nach dieser Anschuldigung wurde sie nicht mehr eingeladen, in Frankfurt zu sprechen. Uwe Becker hatte keine rechtlichen Konsequenzen für sein freundliches Verhalten.
Becker beließ es nicht nur bei der persönlichen Ebene; da er BDS aufgrund einer unverbindlichen Regierungsresolution für antisemitisch hielt, erklärte er, dass die Unterstützung von BDS „zum Abbruch möglicher Beziehungen zur Stadt Frankfurt“. Interessant ist, dass die ("vorgebliche") jüdische Organisation “Jüdische Stimme“ BDS unterstützt. Die Stadt Frankfurt wurde später wegen dieser Anti-BDS-Kampagne von deutschen Gerichten wegen Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte auf Gleichheit, Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit verurteilt.
Während der Kampf gegen Antisemitismus gegen die gefährlichen jüdischen Antisemiten in Hessen tobte, wurde Beckers Land von einigen der schrecklichsten Neonazi-Verbrechen des 21. Jahrhunderts heimgesucht. 2020 tötete ein Rechtsterrorist in Hanau zehn Menschen mit "Migrationshintergrund" (wie man in Deutschland sagt), und später stellte sich heraus, dass 13 Beamte der Spezialeinheit, die bei der Operation zur Bekämpfung des Terroristen im Einsatz waren, zu neonazistischen Chatgruppen gehörten. In Frankfurt, der Stadt, in der Herr Becker Bürgermeister war, wurde gegen 20 Beamte der Spezialeinheit wegen dieser Chat-Gruppen ermittelt, und die gesamte Einheit wurde aufgelöst. Der Frankfurter Polizeipräsident musste zurücktreten, nachdem herauskam, dass der Nationalsozialistische Untergrund 2.0, eine Neonazigruppe, die an der Wiederbelebung der Organisation arbeitete, die zwischen 2000 und 2007 zehn „Nichtarier“ ermordete, Todesdrohungen von Polizeicomputern aus verschickt hatte; auch dies geschah während Beckers Amtszeit als Bürgermeister. Und... nur wenige Monate nachdem Uwe Becker Antisemitismusbeauftragter von Hessen wurde, tötete ein Neonazi den Politiker Walter Lübcke im selben Bundesland.
Aber Becker wird noch interessanter. Er ist ein Familiare oder Laienmitglied der mittelalterlichen Kreuzrittergruppe, des Deutschen Ordens, der eine große Inspiration für die Nazis war. Eine kurze Pause, um unmissverständlich zu sagen, dass ich nicht behaupte, Uwe Becker (oder irgendein anderer deutscher Beamter, der in diesem Artikel erwähnt wird) sei ein Nazi, Nazi-Sympathisant oder Antisemit, weil er in dieser Organisation ist. Dies könnte natürlich zu rechtlichen Schritten gegen mich führen.
Obwohl die Nazis den Orden 1938 verboten hatten, weil er offenbar zu katholisch war, hoffte Hitler, wie er in „Mein Kampf“(S.123) erklärte, in ihre Fußstapfen zu treten. Als Hommage an die Kreuzritter schuf Hitler die NS-Ordensburgen, in denen die NS-Elite ausgebildet werden sollte. "Nur die fanatischsten jungen Nationalsozialisten" wurden ausgewählt, die die Disziplin und die Absichten des ursprünglichen Deutschen Ordens teilten: "das Prinzip des absoluten Gehorsams gegenüber dem Ordensmeister" und die Hingabe "an die deutsche Eroberung der slawischen Länder im Osten und die Versklavung der Eingeborenen". Die Studenten sollten in allen vier NS-Ordensburgen studieren und ihren Abschluss anderthalb Jahre später auf der gewaltigen historischen Deutschordensburg in Malbork, Polen, erreichen. Der Orden genießt in Deutschland ein so hohes Ansehen, dass sowohl die Nazis als auch die moderne Bundeswehr eine Abwandlung des Ordenskreuzes verwenden, das Eiserne Kreuz. Im Jahr 2021 gab es 1.452 Verdachtsfälle von Rechtsextremismus in der Bundeswehr.
Umso faszinierender ist, dass der Deutsche Orden im 12. Jahrhundert in Jerusalem gegründet wurde, um das Heilige Land gegen arabische Muslime und Juden zu verteidigen. Nach ihrer Niederlage kehrten sie nach Europa zurück, um sich an der Ostexpansion zu beteiligen, die Hitler so sehr inspiriert hatte. Nach den Worten von E. P. Rémond "führte der Orden einen Vernichtungskrieg gegen die einheimische Bevölkerung, bis es ihm gelang, einen Musterstaat zu errichten [...] Ihr ursprüngliches religiöses Ziel verschwand nach und nach." Im November 2023 unternahm Becker eine kleine Tour mit der israelischen Armee, die kürzlich von seinem Land des Eisernen Kreuzes militärische Ausrüstung im Wert von 303 Millionen Euro erhalten hatte, an der Grenze zum Gazastreifen, um den Krieg, den manche als einen Vernichtungskrieg bezeichnen würde, aus erster Hand in Augenschein zu nehmen.
Als ich mehr über die Einsetzung der Antisemitismusbeauftragten erfuhr, wurde die Angelegenheit noch merkwürdiger. Laut der Forscherin Emily Dische-Becker wurde der erste Beauftragte, der Bundesbeauftragte Felix Klein, unter anderem als Reaktion auf Sensationsmeldungen in den Medien eingesetzt, die fälschlicherweise behaupteten, auf einer Demonstration, die sich kritisch zu den Beziehungen zwischen den USA und Israel geäußert hatte, seien Sprechchöre zu hören gewesen, die zum Mord an Juden aufriefen. Obwohl sich später herausstellte, dass diese Sprechhöre gefälscht waren, blieb das Amt bestehen. Felix Klein ist in der Tat nicht jüdisch und stammt sogar aus einer evangelikalen Pastorenfamilie. Klein ist weithin dafür kritisiert worden, gegen ‘antisemitische’ Juden und Jüdinnen und People of Color vorzugehen, die die Politik Israels kritisieren.
Der Lektüre von Magda Teters Christian Supremacy: Reckoning with the Roots of Antisemitism and Racism entnehme ich, dass die Verfolgung von Juden ein zutiefst und grundsätzlich christliches Phänomen in Europa ist und keine palästinensische Erfindung. Dies geht aus christlichen Texten hervor, die mindestens aus dem 4. Jahrhundert stammen. Nachdem ich Regina Sharifs bahnbrechendem Werk Non-Jewish Zionism: Its Roots in Western History: Nichtjüdischer Zionismus: Seine Wurzeln in der westlichen Geschichte etwas über frühe Formen des nichtjüdischen Zionismus entnommen hatte, begann ich, die Entwicklung der Dinge in Deutschland mit Sorge zu betrachten.
Wie kann es sein, dass weiße, christliche Deutsche entscheiden können, was Antisemitismus ist, und wie können sie Jüdinnen und Juden mit dem Vorwurf des Antisemitismus ausschließen, zensieren, ja sogar schlagen und verhaften? Wieso sind alle Palästinenser:innen von Natur aus antisemitisch? Warum hat der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, gesagt, Muslime müssten sich von dieser Plage „distanzieren", während Neonazis herumlaufen, Menschen töten und Polizei-, Militär- und Regierungsstellen besetzen? Warum werden nicht stattdessen alle weißen christlichen Deutschen als antisemitisch verdächtigt? Wenn ich an ‘antisemitischen’ Protesten teilnehme und zu Tränen gerührt bin über die schönen, widerständigen Menschen um mich herum, die für Gerechtigkeit und Frieden kämpfen, sind meine Tränen dann auch antisemitisch?
Ich beschloss, dass es an der Zeit war, mich mit dem Wort "Antisemitismus" selbst zu beschäftigen.
In Deutschland entwickelt, wurde der Begriff "Antisemitismus“ von dem selbsternannten Antisemiten Wilhelm Marr 1879 in seinem Buch Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum festgehalten. Zehn Jahre, nachdem den Juden endlich die volle deutsche Staatsbürgerschaft[1] zuerkannt worden war, erfand Marr, der einer langen Tradition des europäischen Antijudaismus entstammte, die Begriffe "Semiten" oder "semitisch" neu[2], um sich ausschließlich auf Menschen jüdischen Glaubens zu beziehen und sie als "orientalische Fremdlinge"[3] zu rassifizieren. Der deutsche Historiker Heinrich von Treitschke behauptete 1880: "Es hat immer einen Abgrund zwischen Europäern und Semiten gegeben [...] es wird immer Juden geben, die nichts anderes sind als deutschsprachige Orientalen."[4] Damit wird nicht nur die Realität der jüdischen Deutschen ausgelöscht, die mindestens seit 321 n. Chr. auf dem Gebiet des heutigen Deutschland lebten, es wird auch die gesamte ethnische Vielfalt und Zusammensetzung der jüdischen Diaspora ausgelöscht und auf eine Pseudorasse reduziert - die alten Hebräer der Bibel, Nachkommen von Sem. Gleichzeitig werden alle anderen semitisch sprechenden Völker ausradiert, und - was im Zusammenhang mit Palästina besonders wichtig ist - die einheimischen semitisch sprechenden Palästinenser:innen.
Diese Auslöschung diente dazu, die deutschen Juden zu entmenschlichen, zu entnationalisieren und den Grundstein dafür zu legen, sie in ihr so genanntes altes angestammtes Vaterland zurückzuschicken, das in den Köpfen einiger der einflussreichsten deutschen Rassisten bereits seit Jahrhunderten von allen einheimischen Bewohnern gesäubert worden war. Während jüdische Deutsche hart für ihre Bürgerrechte und dafür kämpften, als echte Deutsche angesehen zu werden, hatte Immanuel Kant gesagt: "Die Juden sind die Palästinenser unter uns."[5] Martin Luther, der den Protestantismus mitbegründete, der immer noch tief in den Strukturen und Ideologien des "säkularen" deutschen Staates verankert ist[6], sagte im 16. Jahrhundert: "Wer hindert die Juden daran, in ihr Land Judäa zurückzukehren? Niemand. Wir werden sie mit allem versorgen, was sie für ihre Reise brauchen, nur um sie loszuwerden. Sie sind eine schwere Last für uns, das Unglück unseres Daseins." [7] Und im Jahr 1793 erklärte der bedeutende deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte: „Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel , als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen , in denen auch nicht eine jüdische Idee sey . Um uns vor ihnen zu schützen , dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel , als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern , und sie alle dahin zu schicken .“[8]
Daher hoffe ich, dass Sie, liebe Leser und Leserinnen, meine Ablehnung des Wortes "Antisemitismus" nachvollziehen können. Es ist Teil einer giftigen Ideologie, die darauf abzielt,
1) jegliche Vielfalt innerhalb der jüdischen Diaspora zu beseitigen: Sephardim, Mizrahim, Afro-Amerikaner, Inder, Chinesen, Äthiopier und so weiter und so fort, zusammen mit dem reichen kulturellen und sprachlichen Erbe dieser Gruppen;
2) impliziert es eine Lösung für das Problem dieser fremden Völker, die darin besteht, sie in "ihr Land Judäa" zurückzuschicken. In der Tat wurde dieses Mittel von den Nazis bis 1938 in unterschiedlichem Maße als offizielle Lösung für das "semitische" Problem aufgegriffen;
3) impliziert es die Auslöschung des palästinensischen Volkes und eine jüdische Vormachtstellung in den semitischsprachigen Gebieten.
Müssen alle Juden ausschließlich Hebräisch sprechen, damit sie voll und ganz die Semiten der Welt sind? Müssen auch alle, die Arabisch, Amharisch, Tigre und Aramäisch sprechen, ausgerottet werden?
In diesem Sinne können wir beginnen, die Verwendung des Begriffs Antisemitismus durch die deutsche Regierung zu verstehen. Wir können beginnen zu verstehen, wie Deutschland jüdische Menschen verhaften, verfolgen, zensieren und als antisemitisch diskreditieren, und wie es seinen eigenen tief verwurzelten Hass auf Juden auf muslimische Menschen im Allgemeinen und andere semitisch sprechende Völker, insbesondere Menschen palästinensischer Herkunft, verlagern kann.
Deutschland hat das Wort erfunden. Seine Ideologie ist in der deutschen Denkweise und Religion verankert. Warum sollte Deutschland nicht die Freiheit haben, neu zu definieren, was Antisemitismus bedeutet oder ist? Nach Ansicht dieses bescheidenen Autors sollen sie ruhig den Begriff behalten und ihn nach Belieben verwenden. Wenn sie sich dafür entscheiden, eine jüdische israelische Gelehrte zu verhaften und anzuklagen, weil er einen arischen Deutschen einen Antisemiten genannt hat, dann ist das doch völlig in Ordnung! Verprügeln Sie uns, verhaften Sie uns, klagen Sie uns an, nennen Sie unsere palästinensischen Freund:innen und Genoss:innen Antisemiten, verwenden Sie das Wort so viel Sie wollen.
Ich für meinen Teil lehne es ab. Ich lehne die Gründe für seine Entstehung ab. Ich verabscheue die ethnische Säuberung, die das Wort impliziert - sowohl an jüdischen Menschen in Europa als auch heute, und das kann nicht oft genug betont werden, der anhaltende Völkermord in Palästina.
Die deutsche Definition des Antisemitismus ist völkermörderisch.
© Jason Oberman, 2024
übersetzt von Erica Fischer
[1] Magda Teter, Christian Supremacy: Reckoning with the Roots of Antisemitism and Racism (New Jersey: Princeton University Press, 2023), S. 93..
[2] Die Verwendung des Begriffs "Semiten" scheint - welch Überraschung - von Deutschen im 18. Jahrhundert entwickelt worden zu sein, die auf kreative Weise fragwürdige Rassen- und Sprachtheorien vermischten, um Völker zu bezeichnen, die Nachkommen des Shem aus dem Alten Testament waren und sich semitischer Sprachen bedienten. Zu diesen Sprachen gehören u. a. Hebräisch, Aramäisch, Arabisch, Äthiopisch und Altassyrisch
[3] Teter, S. 183.
[4] Ibid
[5] Regina Sharif, Non-Jewish Zionism: its roots in Western history (London: Zed Press, 1983), S. 37.
[6] Die Vorstellung von Säkularismus ist faszinierend. Judith Butler setzt sich damit in Parting Ways auseinander. Säkular wird im Westen auf dem unsichtbaren Hintergrund des Christentums wahrgenommen, nicht selten eines protestantischen. Der deutsche Staat ist in Wirklichkeit ein christlicher Staat. Sonntage sind arbeitsfreie Tage, christliche Feiertage, die Sprache selbst, eine christlich-demokratische Partei.
[7] Sharif, S. 21.
[8] Johann Gottlieb Fichte, Johann Gottlieb Fichte"s Sämtliche Werke (Berlin: Veit und Comp, 1845), S. 150