20 Jahre Jüdische Stimme: Rede unseres Vorsitzenden
Rede des Vorsitzenden Wieland Hoban anlässlich 20 Jahren Jüdische Stimme, 4. November 2023
Liebe Gäste,
liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Mitglieder,
Wie erleben gerade einen Genozid. In Gaza wurden 9.500 Menschen durch israelische Bomben getötet, darunter 4.000 Kinder; die schmale Enklave wird in eine Mondlandschaft verwandelt, und es gibt für die 2,3 Millionen Einwohner keine Zuflucht – ob in Schulen, Krankenhäusern, Moscheen oder Kirchen. Als Rechtfertigung wurden der Überfall durch Milizen aus Gaza benutzt, die am 7. Oktober mehrere Ortschaften im Süden Israels angriffen. In ihren Reaktionen darauf haben mehrere israelische Politiker deutlich gesagt, dass sie Gaza dem Erdboden gleich machen wollten. Benjamin Netanjahu verwies auf die biblische Figur des Amalek, des ewigen Feindes, der nur durch vollständige Vernichtung unschädlich zu machen ist. Und es kamen auch konkrete Pläne der israelischen Regierung ans Licht, die gesamte Bevölkerung von Gaza nach Ägypten zu vertreiben.
Wer zu dieser Veranstaltung gekommen ist und etwas über die Arbeit der Jüdischen Stimme weiß, weiß natürlich, dass diese Geschichte nicht am 7. Oktober anfing. Dass die Blockade des Gazastreifens ein normales Leben seit 16 Jahren dort unmöglich macht. Dass im Westjordanland und Ostjerusalem nicht nur immer mehr Siedlungen gebaut werden, sondern auch, dass es durch Siedler und Armee zu immer mehr Alltagsgewalt und Vertreibungsversuchen bis hin zu Pogromen an Palästinensern kommt. Dass innerhalb des offiziellen israelischen Staatsgebiets palästinensische Staatsbürger zusätzlich zur gesetzlich festgelegten und auch informellen Diskriminierung in immer mehr Gefahr und Angst leben. Dass auch weiteren Millionen in Flüchtlingslagern im Libanon, in Jordanien und Syrien ein Leben in Freiheit mit allen Rechten verwehrt wird, und dass auch die meisten in der großen palästinensischen Diaspora, die in Deutschland und gerade in Berlin stark vertreten ist, nicht nach Palästina zurückkönnen. Und dass all dies auf die Nakba, die Vertreibung von 750.000 Palästinensern ab Ende 1947, zurückgeht, die nie aufgehört hat, die durch den aktuellen Genozid fortgesetzt und in der deutschen Öffentlichkeit kaum anerkannt wird.
Wie hat diese deutsche Öffentlichkeit auf die Ereignisse der letzten Wochen reagiert? In Deutschland wurden viele Demonstrationen schon Tage im Voraus verboten, vor allem hier in Berlin, wo die Polizei mit schockierender Brutalität vorging und sich bei der Durchsetzung von Verboten jenseits des Gesetzes bewegte. In den Medien wurde das Schreckgespenst von Horden blutrünstiger Araber und Muslime heraufbeschworen, die vor allem eine Gefahr für Juden darstellen und am besten alle abgeschoben werden sollten. Selbst der vermeintliche Sozialdemokrat Olaf Scholz hat sich nicht geschämt, sich solcher Rhetorik zu bedienen. Demonstrationen für Palästina und Gaza wurden häufig als „pro-Hamas“ abgestempelt, und falls nicht, wurden meistens antisemitische Tendenzen unterstellt. Durch die Kopplung von Migrationsdiskurs und Antisemitismus wurden tatsächliche Ängste unter Jüdinnen und Juden instrumentalisiert – auch von Figuren des jüdischen Mainstreams wie Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, der protestierende und trauernde Menschen als „Barbaren“ bezeichnete. Der Diskursraum wird immer enger: Eine internationale Konferenz zu Fragen der Erinnerungskultur wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung abgesagt, kritische Köpfe im politischen und kulturellen Betrieb wurden entlassen oder ausgeschlossen. Tendenzen, die sich schon seit Jahren abzeichnen, haben sich verschärft.
Als wir vor Monaten ursprünglich den Plan fassten, eine Jubiläumsfeier zu veranstalten, haben wir uns schon damals gefragt, ob das überhaupt angemessen wäre – und jetzt umso mehr. Ob es angesichts des Leids, angesichts der Tausenden von Toten und Verletzten, vertretbar wäre, einen Abend lang über uns selbst und unsere Geschichte zu sprechen, statt uns auf die Menschen in Palästina zu konzentrieren. Ein Mitglied sagte, wir könnten dann feiern, wenn eine Organisation wie unsere nicht mehr benötigt wird, und ja: Wenn es keine Krankheit oder Verletzungen mehr gäbe, bräuchten wir auch keine Ärzte und Krankenhäuser mehr.
Marek Edelman, einer der Anführer des Warschauer Ghettoaufstands und einer der wenigen Überlebenden, sagte einmal: „Ein Jude zu sein bedeutet, immer mit den Unterdrückten zu sein, niemals mit dem Unterdrücker.“ Das betrachte ich gewissermaßen als unseren Leitsatz, aber es gibt auch Aspekte, die unsere Position komplizierter machen. Ein wesentlicher Teil unserer ursprünglichen Strategie ist schließlich, dass wir gerade als Jüdinnen und Juden zu den Palästinensern stehen, dass der vermeintliche Widerspruch zwischen diesen beiden Tatsachen sowie der ständig mitschwingende Antisemitismusverdacht also durch unsere Solidarität widerlegt werden.
Aber was macht das mit unserer Rolle? Indem wir die Botschaft senden, dass Solidarität mit Palästina nicht dem Jüdischsein widerspricht und Israel nicht für alle Jüdinnen und Juden spricht, beanspruchen wir eine Autorität des Sprechens im Vergleich zu unseren palästinensischen Partnern und Freunden sowie den Menschen in Palästina.
Ich war vor einigen Monaten mit einem palästinensischen Freund bei einem Vortrag des israelischen Historikers Ilan Pappé, der seit Jahren zu den wichtigsten Aufklärern in Sachen Palästina gehört, unter anderem mit seinem Buch Die ethnische Säuberung Palästinas. Der Vortrag war eloquent und treffend, faktenreich aber ohne Akademismus. Da klagte mein Freund: Wenn ein israelischer Jude das sagt, hören alle zu. Aber wenn wir es sagen, sind wir Antisemiten! Und er hatte Recht: Obwohl wir auch von manchen antisemitisch genannt werden, und vom jüdischen Mainstream geächtet oder ignoriert werden, hört man uns immer noch etwas eher zu als Palästinensern, man genehmigt vielleicht etwas eher – nicht immer – Demonstrationen, die von uns angemeldet werden.
Diesen kleinen Vorteil nutzen wir und Gruppen in anderen Ländern, etwa Jewish Voice for Peace in den USA oder der internationale Dachverband European Jews for a Just Peace, damit unsere Botschaft von denjenigen gehört wird, die palästinensischen Stimmen nicht zuhören wollen. Wir nutzen unser Privileg – aber gleichzeitig verfestigen wir es. Unsere Aufgabe darf nicht nur sein, dass wir anderen den Koscherstempel geben, der beschämenderweise von der Mehrheitsgesellschaft erwartet wird, und dass wir sagen, „hört uns zu, wir sind doch Juden“. Unsere Aufgabe muss sein, mit anderen Gruppen in Bündnissen zu arbeiten und sie so zu stärken, dass sie diesen Stempel nicht brauchen. Dass man überhaupt nicht mehr argumentieren muss, dass etwas in Ordnung ist, weil Juden es abgesegnet haben. Wenn ich sehe, wie etwa der Genozid an den Roma und Sinti kaum erwähnt wird, nachdem er ohnehin erst 1982 offiziell anerkannt wurde – fast 40 Jahre danach – und dass große Teile der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht in der Lage sind, die verschiedenen Formen des Rassismus, zu denen schließlich auch der Antisemitismus gehört, zusammenzudenken, überfallen mich Wut und Trauer. Wenn ich sehe, wie ein aufgeblasener Diskurs über „Gender-Gaga“ zu AfD-Plakaten führt, auf denen die Regenbogenflagge mit dem Winkel kombiniert wird, der den KZ-Uniformen aufgenäht wurde, dann habe ich Angst um alle queeren Freunde und um meinen transidenten Sohn. Und wenn ich sehe, wie wenig es weiße konservative Politiker:innen kostet, mit ihren vergangenen und vielleicht noch aktuellen Nazi-Sympathien konfrontiert zu werden, dann weiß ich, dass der Kampf gegen Antisemitismus eine Farce ist und dass Deutschland nie entnazifiziert wurde. In einer Gesellschaft, in der die Faschisten seit Monaten bei über 20% liegen, sind alle Minderheiten bedroht. Natürlich bleibt Palästina unser Fokus, da diese Bewegung so dringend nötig ist und so angefeindet wird. Und weil der deutsche Erinnerungsdiskurs so perfide gegen sie gewendet wird, weil so gnadenlos die falschen Lehren aus dem Holocaust gezogen werden. Aber unser Einsatz für Palästina steht im Zusammenhang eines Engagements für Gerechtigkeit in vielen Bereichen, die alle verbunden sind.
Ich möchte noch etwas über uns sagen, über unsere Organisation und über das, was wir vielleicht sein können. Die letzten Wochen haben uns alle auf eine Weise belastet und beansprucht, dass wir immer wieder an unsere Grenzen kamen – nicht nur aktivistisch, sondern auch menschlich und psychisch. Und doch haben wir einen Zuspruch, eine Solidarität und eine Wertschätzung erfahren, die mich überwältigt hat. In einem normalen Jahr erreichen uns eine Handvoll Mitgliedschaftsanträge. In den letzten drei Wochen kamen sie manchmal fast täglich. Und was ich immer wieder von Menschen höre, die sich uns anschließen wollen, ist dass sie sich frustriert und ohnmächtig fühlen, dass sie gleichzeitig unter der deutschen Staatsraison und den Beschränkungen in jüdischen Räumen leiden, und dass sie hoffen, durch ihren Beitritt – egal, ob sie wirklich aktiv sein wollen oder nur eine Verbindung herstellen möchten – etwas beitragen zu können, zu dem sie sich alleine nicht in der Lage fühlen. Wenn wir also Jüdinnen und Juden einen Ort bieten können, an dem sie den Anschluss an die größere Bewegung finden, dann ist auch dies eine Funktion unserer Arbeit, die letztlich den Kampf um Gerechtigkeit für Palästina und die Solidarität mit anderen Gruppen stärkt. Ich kann von mir selbst sagen, dass mein Beitritt mir damals den Weg geebnet hat, um ein leidenschaftlicher Aktivist zu werden und mich auch ohne inneren Konflikt mit meinem Jüdischsein zu identifizieren. Wir und vor allem unsere palästinensischen Weggefährten werden immer wieder angefeindet und diffamiert, aber zusammen sind wir stark und können so nicht nur uns selbst, sondern auch anderen helfen. Lasst uns daran festhalten, egal, wie dunkel es wird. Es ist eine der Stunden, in der die Masken fallen und wir sehen, wer für Menschlichkeit steht und wer nicht. „Nie wieder“ ist jetzt.