Rede auf der Berliner Kundgebung zum Internationalen Holocaust-Gedenktag, 26.01.2025
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Rede auf der Berliner Kundgebung zum Internationalen Holocaust-Gedenktag, 26.01.2025

Wir haben euch heute eingeladen, nicht allein, um der Vergangenheit zu gedenken, sondern um uns die letzten 16 Monate deutlich zu vergegenwärtigen. Wir wollen hier heute einen Platz schaffen, nicht so sehr für ein Erinnern, sondern eher für ein Vergegenwärtigen. Über eine Gemeinschaft, die die Bereitschaft zum Unterschiedlich-Sein teilt und die sich über das Mensch-Sein verbindet. Eine Gemeinschaft, die sich der Resilienz und dem Widerstand gegen Teile und Herrsche Taktiken der deutschen Regierung verpflichtet fühlt. Eine Gemeinschaft, die zusammenkommt und gemeinsam reflektiert, was Nie Wieder heute überhaupt bedeutet, wenn es geradem schon wieder, vor unser aller Bildschirmen, unseren palästinensischen Brüdern und Schwestern widerfahren ist. Was meint eine deutsche Erinnerungspolitik, wenn sie dieses Nie Wieder mit grundgesetzwidrigen Resolutionen, Gesetzesklauseln und Gedenkfeiern zu gedenken vorgibt? Was meint der deutsche Staat, wenn das, was schon wieder passiert ist, kaum als solches in Medien und der Öffentlichkeit benannt werden darf. Was bedeutet Nie wieder, wenn es nur für eine bestimmte, abstrahierte Identität gil wird. Was bedeutet Nie wieder in der Gegenwart? Der Zukunft? Der Vergangenheit? Wenn all die Male, zu denen sich Deutschland an Genoziden schon wieder und immer wieder mitschuldig gemacht hat -der Herero und Nama, der Armenier:innen, der Pol:innen, der Sinti*zze und Rom*nja, in Ruanda totgeschwiegen werden. Wenn der einzige Genozid, über den gesprochen werden und an den selektiv erinnert werden darf – der Genozid an Juden und Jüd:innen – lediglich dient, instrumentalisiert zu werden, um einen weiteren Genozid zu begehen. Der aber nicht als solcher benannt werden darf.

Was bedeutet erinnern für diejenigen, die hier stehen, nach 16 Monaten andauerndem Genozid in Gaza. Für diejenigen, die jetzt erst Aufatmen können, weil endlich Güter nach Gaza reingelassen werden. Für diejenigen, die jetzt erst die Gelegenheit erhalten, in eine Phase der Erleichterung, aber auch der Trauer überzugehen. Trauer darüber, dass dieses Nie Wieder, das in Deutschland so gerne moralisch angemahnt wurde, schon wieder von der deutschen Regierung, politischen Parteien und dem Rechtssystem geduldet und aktiv militärisch, politisch und ideologisch unterstützt wurde. Geleugnet wurde. Rationalisiert wurde. Verzerrt und verteidigt wurde.

Jedes Zeitalter trägt das Potential zum Faschismus in sich. Auf jedem Kontinent, in jeder Kultur, jeder Religion, in jedem Land und in jedem Menschen schlummert ein zerstörerisches Potenzial für das Entflammen autoritärer und faschistischer Orientierungen. Faschismus agiert da, wo Machthabende, auf die eine oder andere Art und Weise, ihnen unliebsame Zivilist:innen die Möglichkeit und Fähigkeit des Selbstausdrucks, des Gesehen und Beachtet-Werdens systematisch vorenthalten. Das kann ethnische Minderheiten, Geschlechter, religiöse Gruppierungen aber auch die gesamte Gesellschaft betreffen. Wenn sie manche Menschen auf totalitäre Weise gegenüber dem System ausliefern, während sie anderen, unter der Bedingung der Anpassung und des Konformismus Sicherheiten und Privilegien gewährleisten.

Dies geschieht nicht nur durch die Anwendung von staatlicher Repression und Polizeigewalt. Dies entsteht durch Wissenschaftsfeindlichkeit, wie wir am Umgang mit palästina-solidarischen Student:innen und Professor:innen an Universitäten in Berlin und der gesamten Bundesrepublik beobachten konnten. Dies geschieht durch vergiftete und toxische Narrative, wie beispielsweise das Narrativ über arabische bzw. muslimische Menschen mit Fluchterfahrung, die eine von Antisemitismus gereinigte und geläuterte deutsche Gesellschaft erneut drohen, mit ihrem eigenen, vermeintlich inhärenten Antisemitismus zu verseuchen. Dies geschieht durch Verleugnung. Wie beispielsweise die Verleugnung dass es sich – wider eindeutiger, wissenschaftlicher Erkenntnisse – in Gaza tatsächlich um einen Genozid handel. Dies geschieht durch bewusste Verzerrung, wie beispielsweise die Verzerrung dessen, was antisemitisches Verhalten meint, und was es nicht meint. Dies geschieht durch die Verschmutzung der Justiz. Wie beispielsweise eine Justiz, die sich nicht an den klar festgelegten Grundsätzen des Grundgesetzes orientiert, sondern an rechtswidrigen Resolutionen und der rechtswidrigen, deutschen Staatsräson. Dies geschieht dort, wo eine Nostalgie propagiert wird. Eine Nostalgie über eine Gesellschaft, die angeblich nur freiheitlich demokratisch ist und reibungslos funktioniert, wenn bestimmte Menschen, welche die falschen Werte vertreten, politisch unterdrückt, kontrolliert, verfolgt werden. Dies geschieht dort, wo Illusionen verkauft werden. Wie beispielsweise, dass eine gesellschaftliche Ordnung, dass Sicherheit, Freiheit, der westliche Lebensstil für manche Menschen erst wieder gewährleistet werden kann, wenn wieder massenweise und in großem Stil abgeschoben wird.

Müssen wir uns heute an etwas erinnern, oder geht es nicht vielmehr darum, sich schmerzhafte Gewissheiten, die gerade wieder aktuell sind, kompromisslos zu vergegenwärtigen und aus diesen Gewissheiten Konsequenzen für heutiges Handeln abzuleiten?

Bedeutet Erinnerung, dass nur jüdische Menschen davor geschützt werden, der Gewalt anderer Menschengruppen je wieder zum Opfer zu fallen?

Will die deutsche Gesellschaft aus den Mustern ihrer Geschichte wirklich lernen? Ich zweifle daran. Aber ich will daraus lernen, und frage mich heute, was ich – was wir – anders machen müssen, damit Gedenken und Erinnern und sich kontinuierliches Vergegenwärtigen wirklich bedeutet, dass sich nicht nur Auschwitz niemals wiederholt, sondern auch all die anderen Genozide, die sich nicht wiederholen dürfen. Gibt es hier in Deutschland ein Zukunftszenario, in dem wir uns der lebendigen Diversität des Miteinanders erfreuen? Oder vermag Deutschland nur, den Toten zu gedenken?

Gedenken bedeutet, sich damals wie heute zu verdeutlichen, dass die Gefahr des Faschismus nie überwunden geglaubt werden kann. Dass autoritäre Züge, Faschismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Rassismus, Terrorismus nichts ist, was von außen in eine Gruppe importiert wird. Es bedeutet, sich zu vergegenwärtigen, dass dieses Virus in jedem einzelnen Menschen schlummert, zum brodeln gebracht und unter bestimmten Bedingungen reaktiviert werden kann.

Sind wir immun gegen Faschismus und Rassismus, weil unsere Vorfahren einem Massenmord, einem Genozid, staatlicher Verfolgung und Ausgrenzung zum Opfer gefallen sind? Sind Menschen, deren Vorfahren Opfer wurden immun dagegen, sich in der Gegenwart in Täter:innen zu verwandeln? Die letzten 16 Monate haben uns eines Besseren belehrt. Weder Religion, noch Identität, noch Nationalität bewahrt uns davor, faschistische Ideologien zu verinnerlichen und reproduzieren.

Was bedeutet es über unser Verständnis von Schuld und Unschuld, wenn die Nachkommen der historisch als unschuldig deklarierten ihre Erfahrung des Opfer geworden-seins instrumentalisieren können, um sich eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit schuldig zu machen? Was nehmen wir mit aus der Erkenntnis, dass Ideen, Einstellungen und Glaubenssysteme, die man mit Gewalt versucht auszurotten und zu bekämpfen, letzten Endes Widerstandskräfte entwickeln und gestärkt aus dieser Bekämpfung hervorgehen können?

Welche gesellschaftlichen Konditionen müssen wir entwickeln, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern? Auf welche Regeln und Gesetze wollen wir uns als gemeinsame Nenner einigen, wenn die Rechtsprechung des internationalen Gerichtshofes gescheitert ist, und das deutsche Grundgesetz nur noch auf dem Papier gilt, aber nicht angewendet wird? Was muss jeder von uns tun, um strukturelle Gewalt nie wieder zu reproduzieren, reproduzieren zu wollen? Reicht es, wenn Regeln und Gesetze festgehalten werden? Beispielsweise im deutschen Grundgesetz? Diejenigen, die dessen Einhaltung eigentlich achten und umsetzen sollen, Polizisten, Politiker:innen, Staatsbeamte, verstoßen tagtäglich dagegen. Sie entwickeln Resolutionen im Bundestag, um ebendieses Grundgesetz, das totalitären Bestrebungen vorbeugen soll, zu umgehen.

Müssen wir uns grundsätzliche Fragen über Demokratie, Regierungsformen, über Normalität, über Regeln, über Gesetze, über Konformismus stellen? Reicht das, was wir bisher entwickelt haben, nicht mehr aus?

Wenn alle diese Regeln, Grundgesetze, Erinnerungskulturen, öffentlichen Aushandlungsprozesse scheitern, was bedeutet dann antifaschistischer Widerstand? Was macht eine Gesellschaft widerstandsfähig gegen Autoritarismus, Rassismus, Faschismus und ideologischen Extremismus? Es ist höchste Zeit. Nicht zu gedenken, sondern eine gesunde, gegenwärtige Diskussionskultur zu entwickeln, und zu handeln. Nie wieder muss für alle gelten, sonst passiert es nicht nur schon wieder, sondern immer wieder.


Rede von Emily Weingarten